Gottesdienst
am 15. November 2009
Predigt am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres/Volkstrauertag
Text: Römer 8, 18 - 23
Liebe Gemeinde!
Bei einem Besuch vor einigen Wochen wurde ich ins Wohnzimmer geführt. Auf
dem Tisch lag eine Karte mit dem Text "Aus gutem Eisen macht man keine
Nägel, aus guten Menschen macht man keine Soldaten". Sprichwort aus China,
stand darunter. Ich konnte mir nicht verkneifen, die Frau des Hauses nach
dem Sinn dieser Karte zu fragen. Die Antwort: Mein Sohn hat sich freiwillig
bei der Bundeswehr verpflichtet, und stellen Sie sich vor: Er will nach
Afghanistan! Ich habe gefragt, ob sie - im Sinne des chinesischen
Sprichwortes - ihren Sohn für einen schlechten Menschen hielte. "Nein,
natürlich nicht!" war die Antwort. "Aber mit dieser Entscheidung kann ich
nicht leben. Das darf er mir nicht antun."
Der Besuch dauerte länger als geplant. Wir haben ein langes Gespräch
geführt. Die Mutter des jungen Mannes hat verstanden, dass die Entscheidung
für die Bundeswehr wahrscheinlich ein Akt der Emanzipation von Zuhause ist:
Einziges Kind, die Mutter de facto alleinerziehend, der Vater spielt so gut
wie keine Rolle in der Familie. "Aber muss er sich denn auf diese Weise von
mir lösen?" Man war doch im gesamten Bekanntenkreis immer gegen den
Wehrdienst! Und dann nach Afghanistan!
Seit sie ihm ihr volles Contra zu seiner Absicht gegeben hat, kommt er nur
unregelmäßig nach Hause und spricht kaum ein Wort.
Ich habe gefragt, wie sie denn reagieren würde, wenn sie mittels eines
chinesischen Sprichwortes indirekt täglich als schlechter Mensch bezeichnet
würde. Und ich habe auch gefragt, ob sie wirklich der Meinung sei, dass wir
Eltern uns aussuchen könnten, wie sich unsere Kinder von uns lösen.
Ich werde demnächst wieder hingehen und erfahren, wie sich diese Sache
weiter entwickelt hat. Eines geschah damals sofort: Die Karte wurde
zerrissen. In keiner Weise will ich mit diesem Beispiel den Wahnsinn des 2.
Weltkrieges mit den "kriegsähnlichen Zuständen" - wie das jetzt offiziell
genannt wird - in Afghanistan gleichsetzen. Doch seit der Zeit, als ich hier
als amtierender Domprobst die Gottesdienste am Volkstrauertag zu halten
hatte, hat sich eines grundlegend geändert: Die Trauer über gefallene
deutsche Soldaten bezog sich damals ausschließlich auf die Vergangenheit.
Der Frau in Hamburg ist die Möglichkeit ganz nah gerückt, dass ihr Sohn
schon bald in Afghanistan fallen könnte. Mit einem Satz: Das, was Helmut
Schmidt so und nie anders "die Scheiße des Krieges" nennt, ist für nicht
ganz wenige Menschen in unserem Land zu einer wirklichen Bedrohung geworden.
Am Volkstrauertag zu predigen bedeutet dreierlei:
Zu erinnern an die Vergangenheit, deren Schatten immer noch über uns liegt.
Zu bedenken, dass wir in einer bedrohten, friedlosen und unübersichtlichen
Gegenwart leben.
Zu bezeugen, dass wir die Hoffnung haben auf eine Vollendung in
Herrlichkeit.
Dies möchte ich tun.
Erstens: Unsere Vergangenheit wirft lange Schatten. Trotz des Krieges in
Afghanistan darf man fragen, ob wir nicht so ganz allmählich wir auf einen
Volkstrauertag verzichten können. Denn die Zahl der vom 2. Weltkrieg
betroffenen Menschen wird von Tag zu Tag kleiner, und die Trauer nimmt im
Laufe der Zeit ab. Ich habe noch Erinnerungen an die Zeit des Kriegsendes
und die Nachkriegszeit. Aber machen wir uns nichts vor: für Jugendliche
unserer Tage ist Hitler so weit weg wie Napoleon. Für sie liegt der 2.
Weltkrieg ebenso im Nebel der Vergangenheit wie der erste oder der
siebenjährige oder der dreißigjährige. Ich bin dennoch überzeugt, dass wir
auf einen Tag der Erinnerung nicht verzichten dürfen. Denn wir haben die
Vergangenheit weder bewältigt, noch hat sie sich durch den Nebel ins Nichts
aufgelöst. Ein Beispiel: In unregelmäßigen Abständen wird Immer wieder mal
über ein Verbot der NPD diskutiert. Vor 30 Jahren habe ich mir nicht träumen
lassen, dass wir vor fast jeder Landtagswahl befürchten müssen, Enkel oder
Urenkel der Nazis könnten in Parlamente einziehen. Ich habe mir nicht
vorstellen können, dass jemals wieder in Deutschland Menschen beleidigt,
verfolgt, verletzt oder getötet werden -- aus keinem anderen Grunde als dem,
dass sie nicht so aussehen, wie Deutsche angeblich auszusehen haben. Ich
schäme mich dafür, dass in meinem Land jüdische Einrichtungen wie
Hochsicherheitszonen bewacht werden müssen. Die Schatten der Vergangenheit
lasten schwer auf unserer Gegenwart. Darum ist es wichtig, sich dieser
Vergangenheit zu erinnern. Sie nicht zu beschimpfen, sie nicht zu
verharmlosen, sie auf gar keinen Fall zu glorifizieren, sondern ihrer immer
wieder zu gedenken. Auch wenn dies Gedenken schmerzhaft ist und voller
Scham. Dies Gedenken stellt uns vor die Augen, dass alle Gräuel und
Schreckenstaten, alles Heldenhafte und Aufopfernde jener Zeit zwischen 1933
und 1945 von normalen Menschen gemacht wurde. Sie waren nicht als Monster
geboren und nicht als Helden. Sie waren im Alter von drei Jahren noch keine
Mitläufer oder Folterer oder Widerstandskämpfer. Sie haben sich dazu
entwickelt, wurden dahin erzogen, haben sich dafür entschieden. Genauso
hätte es auch mit uns sein können. Mit mir und mit jedem, der hier ist.
Jeder von uns hätte beides werden können in jener Zeit: Mörder und Retter.
Feigling und Held. Oder eben, wie meistens, irgend etwas dazwischen. Das
Gedenken der Vergangenheit lehrt, dass es heute nicht anders ist. Was Paulus
"das ängstliche Harren der Kreatur" nennt, könnte man (vor diesem
Hintergrund) auch bezeichnen als "das furchtsame Verharren der
Unentschlossenen" oder "das neugierige Gaffen der Feiglinge". Auch da, liebe
Gemeinde, kann jeder von uns beides sein: Engagiert oder feige,
unentschlossen oder entschieden, Retter oder Zerstörer.
Zweitens: So wahr wie die
Vergangenheit ihre Schatten wirft, so wahr gehen wir auf das Licht zu. Ich
gebe zu: Wir können uns ganz gewaltig irren, wenn wir von der Zukunft, wenn
wir von dem Sein jenseits der Todesschwelle etwas Gutes erwarten. Ich muss
mich korrigieren: Nicht etwas Gutes, sondern das Gute schlechthin, die
endgültige Wahrheit, die uneingeschränkte Erlösung, die herrliche Freiheit
der Kinder Gottes. Also: Wir können uns ganz gewaltig irren, wenn wir dies
alles von der Zukunft Gottes erwarten. Aber ich bin davon überzeugt, dass
diese Erwartung begründet ist. Ich will einen Vergleich bemühen: Jeder
Mensch hat ein Gewissen. Das ist mehr oder weniger stark ausgeprägt, das
schlägt verschieden, darüber kann man sich hinwegsetzen, man kann es für
einige Zeit zum Schweigen bringen -- all das stimmt. Aber es stimmt auch,
dass jeder Mensch ein Gewissen hat. Und genauso stimmt: Jeder Mensch hat
eine Hoffnung, die etwas mit Vollendung zu tun hat. Eine Hoffnung, die über
den Tod hinausgeht. Ich bin manches Mal angemacht oder angegriffen worden,
wenn es um kirchliche Worte oder christliche Aussagen ging. Aber wenn ich
sage: "Ich glaube, dass unser Leben nicht mit dem Tode vorbei ist", bekomme
ich so gut wie keinen Widerspruch. Im Gegenteil. Dann stimmen selbst die
vorsichtig zu, die mit Kirche und Jesus und Gott und Religion nichts zu tun
haben wollen. Ich schließe daraus, dass ich mit so einer Aussage (Ich
glaube, dass unser Leben nicht mit dem Tode vorbei ist) etwas anrühre, was
in jedem Menschen vorhanden ist: Nämlich die Hoffnung über den Tod hinaus.
Die Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Vollendung. Mit dieser
Hoffnung kann man umgehen wie mit dem Gewissen: Man kann sie verdrängen,
sich darüber hinwegsetzen, man kann Argumente dagegen bringen oder sich
darüber lustig machen. Diese Hoffnung bleibt. Und sie ist nicht kaputt zu
kriegen. Damit ist nicht gesagt, dass sie sich auch erfüllen wird. Aber weil
alle Menschen ein Stück von dieser Hoffnung in sich tragen, gehe ich davon
aus, dass sie nicht völlig ins Leere geht. Seit der Auferstehung Jesu
Christi ist diese Hoffnung für uns konkreter geworden: Wir hoffen, dass
Christus uns vorangegangen ist und dass wir ihm folgen werden. Wir werden
bei Gott sein, wie er bei Gott ist. Das meint Paulus, wenn er von der
Herrlichkeit spricht, die an uns offenbar werden soll, von Erlösung und der
herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. In dieser Hoffnung haben Tod, Leid,
Verzweiflung, Zerstörung, Dunkelheit und Schatten keinen Platz. Wir hoffen
auf ein Sein bei Gott, für das wir zwar Worte haben, aber keine Bilder, um
diese Worte anschaulich zu machen. Himmel, Herrlichkeit, Seligkeit, Ewiges
Leben -- das alles sind nur Worte. Wir hoffen, dass es keine leeren Worte
sind. Wir hoffen, dass sie gefüllt werden mit einem alle Worte
übertreffenden herrlichen Inhalt.
Drittens: Das Licht dieser
Hoffnung fällt in unsere Gegenwart und streitet mit den Schatten der
Vergangenheit. Es ist nicht ausgemacht, wovon wir uns leiten lassen: Von dem
Licht oder von den Schatten. Eins ist aber für mich ganz eindeutig: Weder
die Schatten noch das Licht können uns gleichgültig lassen.
Wenn Schatten der Vergangenheit uns treffen, wenn in unserem Land Worte
gesprochen und Ansichten hoffähig werden können, die - wie gesagt - vor 30
Jahren öffentlich noch nicht gesprochen wurden und auch nicht hoffähig
waren, dann erschreckt uns das tief und krempelt einiges um.
Wenn das Licht der Hoffnung Funken sprühen lässt, dann passiert auch etwas
tief in uns drin und krempelt einiges um. Wenn aber nichts passiert, dann
ist das Reden vom Licht nur frommes Geschwätz und das Gedenken der
Vergangenheit sinnlos. Was ich bei diesem Gegeneinander von Licht und
Schatten am unerträglichsten finde, ist die Trägheit des Herzens. Sie denkt:
Es gibt doch auch ohne dies Licht und diesen Schatten so viel zu tun und so
viel zu bedenken, zu tragen und durchzustehen -- irgendwann will man seine
Ruhe haben. Ein verständlicher Wunsch! Man darf ihm nur nicht nachgeben.
Unübertroffen ist Goethes Karikatur eines solchen herzensträgen
Spießbürgers: "Nichts Bess'res weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein
Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei, die
Völker aufeinanderschlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus,
und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; dann kehrt man abends
froh nach Haus und segnet Fried' und Friedenszeiten."
Das Fernsehen liefert uns täglich Berichte davon, wie überall auf der Welt,
und eben auch in der Gegend der Türkei, gekämpft wird. Die Berichte sind in
verdauliche Häppchen von 90 Sekunden verpackt, und wir konsumieren sie wie
die Chips, die wir dazu knabbern. Wir sehen Bilder vom Leid. Wir sehen nicht
das Leid selbst. Wir sagen auch: "Schrecklich, was da passiert." Aber dann
kommt eine neue Meldung oder ein anderes Programm, wir müssen über den
Schrecken nicht weiter nachdenken und segnen den Frieden der Gartenzwerge.
Liebe Gemeinde: Solch ein Erschrecken ist nichts wert. Es dient zu nichts
anderem, als die Trägheit unseres Herzens zu rechtfertigen. Aber dafür gibt
es keine Rechtfertigung. Wenn funkensprühendes Licht und schwarze Schatten
miteinander streiten, dann ist es völlig egal, ob wir den Dimmer unserer
Wohnzimmerbeleuchtung ein wenig so oder so herum drehen.
Hier wird für mich übrigens so
deutlich wie selten, wie dringend wir als Einzelne den Gottesdienst der
Gemeinde brauchen. Als Einzelner gewöhnt man sich ganz schnell an die
Trägheit seines Herzens und sagt sich: "Das ist eben so. Da kann ich ja doch
nichts machen."
Der Gemeindegottesdienst erinnert daran, dass es mehr gibt als das gedimmte
Licht der Wohnzimmerlampe und den Frieden der Gartenzwerge. Alle Leiden
unserer Zeit, alle Schatten der Vergangenheit stehen in einer Beziehung zu
der Hoffnung, die in uns ist. Paulus bläst in das Feuer dieser Hoffnung mit
seinen Worten hinein, damit die Funken fliegen. Für ihn steht fest: Es geht
nicht nur um die Erlösung des Einzelnen. Sondern alles um uns wartet, harrt
auf ein Ende in Herrlichkeit, seufzt unter den Schatten, die auf ihm liegen
und möchte bestrahlt werden von dem Licht.
Auf dieses herrliche Ende hoffen
wir. Das bezeugen wir. Wir sind nicht zu wenig und nicht zu schwach, um die
Funken unserer Hoffnung sprühen zu lassen. Besonders nicht am
Volkstrauertag.
Amen.
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