Horst Otto Müller
Glockengeschichte 1

Die Folgen des Dombrandes

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Im ersten Abschnitt unserer dreiteiligen Dokumentation über die Geschichte der Kirchenglocken des Doms seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts werden Dokumente und historische Fotografien Aufschluß über die Frage geben: wie gingen die Menschen mit den Schäden um, die das verheerende Feuer im Jahr 1893 verursachte hatte?

Als sich die Rauchschwaden verzogen hatten, kletterten Arbeiter auf die stehengebliebenden Mauern, um die entstandenen Schäden zu begutachten: die Apsisbedachung, Hauptschiff- und Querschiffdächer sowie die Turmbedachung waren verbrannt. Im Detail einer kurz nach Brandende entstandenen Aufnahme wird das Ausmaß des Zerstörung deutlich:




Detail einer Fotografie von Edv. Lassen, 1893.
Der Ratzeburger Dom von Süden, nach dem Brand.
 

Allen Beteiligten war klar: bevor in der jetzt nach oben offenen Glockenstube wieder geläutet werden kann, muß der Turm ein Dach erhalten. Noch im gleichen Jahr wurde eine provisorische Bedachung aufgesetzt, doch die Zimmerer bzw. die Dachdecker installierten ein viel zu flaches Dach. Wir Heutigen sind - aerodynamisch geschult - leichter in der Lage, diesen Baufehler einzuschätzen. Die Sogwirkung eines über ein extrem flaches Dach hinstreichenden Windes an der Leeseite ist enorm, besonders flachgeneigte Dächer sind anfälliger gegen Windsog als steilere, zumal bei entsprechend windgefährdeter Lage des Gebäudes, so wie hier bei einem freistehenden Turm. Der 'Ratzeburger Anzeiger' berichtet Anfang 1894 Herbst darüber, daß ein Sturm das Notdach weggetragen hat.


Starkes Detail aus der Fotografie eines
namentlich nicht bekannten Fotografen:
Das Notdach vom Spätsommer 1893.
 

Nach diesem erneuten Schaden war es unausweichlich, die Frage, auf welche Weise das Läuten der Domglocken wieder möglich sein würde, zumindest ins Folgejahr zu verschieben. Es gab vor dem Wintereinbruch dringende weitere Baustellen; vor Allem die Rekonstruktion des Hauptschiffdachs stand auf dem Arbeitszettel der Bauleute.
 


Detail einer Fotografie von Edv. Lassen, 1894.
Die große Glocke vor der Vorhalle des Doms.
 

Die während des Brandes abgestürzten, durch Deformation oder Risse unbrauchbar gewordenen alten Bronzeglocken bzw. dessen Metallreste werden geborgen. Das gilt auch für die große Glocke, die zwar aus der Glockenstube abgestürzt, aber vom darunterliegenden Geschoß aufgefangen worden war. Dazu berichtet der "Ratzeburger Anzeiger" am 7. September: "Heute Nachmittag gegen 3 Uhr wurde die große Glocke, die einzige der herrlichen Domglocken, welche das Feuer am 19. August nicht gänzlich zerstört hat, aus der an der Westseite des Turms befindlichen Schallöffnung in die Tiefe gestürzt. Mittelst Flaschenzuges war die ca. 80 Zentner schwere Glocke von dem Deckengewölbe der Turmhalle zunächst auf ein Balkengerüst bis vor die große Luke gehoben worden, um von hier aus hinabgerollt zu werden. Ohne Sang und Klang, nur einen dampfen Klagelaut von sich  gebend, kam das geborstene und vom Feuer beschädigte Erz auf dem Erdboden an, beim Fall tief in das hier weiche Erdreich eindringend. Dem Vorgang wohnte ein zahlreiches Publikum bei, das sich jedoch beim Fall der Glocke in respektvoller Entfernung hielt. Die Glocke, die am Tage des Brandunglücks ihr Sterbelied ertönen ließ, wird nunmehr vollständig zerschlagen werden, um beim Guß der neuen Dom-Glocken mit verwendet zu werden."

In der Samstag-Ausgabe der "Lauenburgischen Zeitung - Ratzeburger Anzeiger -" heißt es dazu in einem namentlich nicht bezeichneten Artikel "Über die Glocken des Doms zu Ratzeburg": "Vor dem verhängnisvollen Brande am 19. August des Jahres besaß der Dom sechs Glocken, von denen die drei größeren im Hauptturm, die kleineren im Dachreiter hingen. Das Interesse für das schöne, nun zu Grunde gegangene Läutewerk ist so groß, daß wir uns bewogen fühlen, eine genaue Beschreibung desselben zu bringen, umsomehr, da bereits irrige Angaben durch die Presse Verbreitung gefunden haben.

Von den drei Glocken im großen Turm wog die größte 6595 Pfund; sie ist 1727 von Lorenz Strahlborn in Lübeck umgegossen und um 1531 Pfund vergrößert worden. (Die alte war 1707 auf dem Kirchhofe von Casteel gegossen worden). Die zweite Glocke wog 3843 und die dritte 2828 Pfund. Beide wurden 1678 von Albrecht Benninck zu Lübeck umgegossen. ...

Auf der großen Glocke, welche dem Feuer mächtigen Widerstand geleistet hat, aber doch arg verstümmelt ist, sind die Ornamente und Inschriften noch erkennbar. Oben an der Haube steht ringsherum in zwei Reihen zwischen Ornamenten: BEDENKT DEN TOD DER TAG KOMMT BALD, DIE DIE POSAUNE GOTTES SCHALLT. - THUT BUSS UND FEYERT EURE FESTE SO, DASS IHR DAMIT DEN HIMMEL MACHET FROH."

Er referiert anschließend die Inschriften am unteren Rand sowie an der Seite der großen Glocke, die während der Hängung im Glockenstuhl nach Norden zeigte und geht dann auf Besonderheiten der Glockenzier ein.
 




Starkes Detail einer Fotografie von Edv. Lassen, 1893.
Wappen und drei eingegossene Münzen auf der großen Glocke.

Da eine runde Glocke keine festgelegte Vorder- und Rückseite hat, bezieht er sich wieder auf die ursprüngliche Postion im Turm: "An der Südseite befindet sich das siebenfeldige, fünffach behelmte mecklenburgische Wappen mit Büffel und Greif als Schildhalter. Unter dem Wappen befinden sich drei mit eingegossene Gedenkmünzen; es sind dies wahrscheinlich Thaler, denn sie zeigen die Darstellung solcher, die Adolph Friedrich III. auf die am 31. Oktober 1717 stattgefundene 2. Säkularfeier der Reformation hat prägen lassen."

Der Artikel schließt nut einem (nicht umgesetzten) Vorschlag: "Die Metallreste der vorstehend beschriebenen drei Glocken, die das Feuer gänzlich vernichtet hat, sind mit den Ueberresten der Glocken des Hauptturms sorgfältig gesammelt worden und werden wahrscheinlich beim Guß des neuen Läutewerks der Domkirche mit Verwendung finden. Es wäre wünschenswert, daß auch die Inschriften der Jahrhunderte alten Glocken mit einem Hinweis auf deren Zerstörung am 19. August auf den neuen Glocken angebracht würden."

Ergänzend dazu heißt es in der "Lauenburgischen Zeitung" vom 14. Oktober 1893: "Bei den Aufräumungsarbeiten des Domes sind die geschmolzenen Glockenteile sorgfältig gesammelt worden. Beim Wiegen stellte sich heraus, daß im ganzen 6759 Pfund gerettet sind. Rechnet man dazu das Gewicht der nicht zerstörten Glocke zu ca. 5300 Pfund, so wäre das Metall für das Hauptgeläute, zu 12000 Pfund gerechnet, vorhanden und würden dafür nur die Kosten des Gusses zu bezahlen sein. Dagegen werden die kleineren Glocken für das Uhrwerk neu zu beschaffen sein."

 

Der Kirchenvorstand nutzte die Ruhephase der Bauarbeiten im Winter 1893/94 dazu, Angebote für die Beschaffung eines passenden eichenen Glockenstuhls und eines neuen Geläutes einzuholen.

Die Wahl fiel auf die Firma C. Voss & Sohn, Stettin, eine 1829 gegründete Metallwarenfabrik mit großer Glockenabteilung. Da sie auch Feuerlösch-Geräte im Programm hatte, besteht die Vermutung, daß es bereits auf diesem Sektor Geschäftsbeziehungen mit dieser Firma gegeben hatte. Sie verfügte über bestes Renommee (zum Beispiel gewann sie einen 1. Preis auf der Weltausstellung in Sydney) und konnte - so weist es ihr Geschäftsbogen aus - mit einer sehr breiten Angebotspalette aufwarten: "Glockenlager mit Dauerschmierung und Ölkammer. Glocken jeder Größe bis 300 Ctr. Gewicht. Harmonische Geläute. Komplette elektrische Läutevorrichtungen. Komplette Glockenspiele und Zubehör. Umguss gesprungener Glocken. Wiederherstellung gesprungener Glocken ohne Umguß durch Schweißung der Sprungstelle. Glockenstühle neuester Konstruktion aus Schmiedeeisen, Eichen- und Kiefern-Holz. Umhängung schwergehender Glocken nach dem neuesten und bewährtesten System. Bei voller Pendellänge grösste Schonung der Türme. Uhrschalen (jeder Größe) in Schalen- oder Glockenform. Turmuhren, Kirchenkronleuchter für elektrisch, Gasglühlicht und Kerzen, Kandelaber, Wandarme, Krucifixe, Altarleuchter etc. Giesserei für Kunstguss, Grabtafeln, Medaillons. Bildnisse, Tyroler Glockengiesserei, Engros und Export. (Besondere Preisliste hierüber.) Schiffsglocken, Schulglocken, Bahnsteigglockcn, Glocken für Fabriken, Güter etc. Photographische Abbildungen."

Geliefert wurden fünf Bronzeglocken mit den dazugehörigen Läuteapparaten sowie ein sehr solider eichener Glockenstuhl. Das nachfolgende Foto zeigt eine dieser fünf Glocken mit ihren zeittypischen Glockenohren-Verzierungen in Form von plastisch ausgeformten Köpfen:


Fotografie aus dem Domarchiv, undatiert:
Eine der fünf Bronzeglocken, Inschrift:
"Gegossen von C. Voss & Sohn in Stettin, 1894."
 

Es haben sich keine Rechnungen erhalten, aber es gibt ein Schreiben der Firma aus dem Jahr 1900, in dem sie den "Wohllöblichen Gemeindekirchenrat des Domes" darum bittet, ihr ein schriftliches Zeugnis über die gute Qualität der ausgeführten Arbeiten auszustellen ("Freicouvert liegt bei"), ein Anliegen, das sie im Jahr 1914 wiederholt, diesmal mit der Bitte, ein positives Urteil über die Arbeiten auszustellen, die in einem neu zu erstellenden Firmenkatalog abgedruckt werden soll.

Mit diesem Jahr endet die ungefährdete Existenz der Glocken im Ratzeburger Domturm, denn bereits kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in dem bald heftige Materialschlachten toben, denkt die militärische Führung über kriegswirtschaftlich wichtige Nichteisen-Metalle und ihre nachhaltige Beschaffung nach. Dabei hat sie auch bronzene Denkmäler, Orgelprospektpfeifen und Läutewerke aus Erz im Blick.