III. Zur Kunstgeschichte.
Die alten Chorstühle des Domes zu Ratzeburg
Der
Dom zu Ratzeburg besitzt noch Ueberreste von alten, aus Eichenholz
geschnitzten Chorstühlen, welche die höchste Beachtung verdienen,
wenn auch die Stühle nicht mehr vollständig erhalten sind.
1. Die
romanischen Chorstühle.
Der
Dom besitzt noch zahlreiche Ueberreste von Chorstühlen romanischen
Styls von ungewöhnlicher Schönheit, welche zu den größten
Seltenheiten des christlichen Europas gehören. Es sind von den
Stühlen nur noch die geschnitzten Seitenstücke vorhanden, die
Sitzklappen und Rückwände aber längst verschwunden. Jedes
Seitenstück ist unterhalb der Sitzklappe vorne mit zwei kleinen
romanischen Säulen, welche alle verschieden sind, verziert; das Ende
oberhalb der Sitzklappen, welches nicht höher ist, als das untere
Ende, ist ausgeschweift, oben mit einem Wulst bedeckt und mit
geschnitzten romanischen Rosetten und Blumen verziert. Diese
Chorstühle stammen sicher aus der Zeit der
211 212
Erbauung des
Domes, des ältesten Bauwerkes in Meklenburg, also aus der ZWEITEN
HÄLFTE DES 12. JAHRHUNDERTS. Wenn die jetzt noch stehende Domkirche
auch sicher nicht aus der Zeit der STIFTUNG des Bisthums (1154)
stammt, sondern der letzten romanischen Bauperiode angehört, so
möchte ich die Vollendung der Kirche doch noch in das ENDE DES 12.
JAHRHUNDERTS setzen, da sie noch ganz im romanischen Baustyl
durchgeführt ist, abgesehen von den Hauptgewölben, welche sicher
viel jünger sind. Jedenfalls gehört die Kirche noch ganz der
ROMANISCHEN BAUPERIODE an, und eben so alt sind sicher und
wenigstens die romanischen Chorstühle, welche auf den ersten Blick
sowohl nach dem Styl, als nach ihrem ganzen Ansehen ein sehr hohes
Alter verrathen. Sollte man dem Domgebäude mit zwingenden Gründen
ein etwas jüngeres Alter aufdringen können, so möchte ich diese
Chorstühle grade nicht für jünger halten. Es wäre doch möglich, daß
sie nach Vollendung des jetzt stehenden Doms aus der S.
Georgenkirche von Ratzeburg, wo im Anfange des Bisthums der
Bischofsitz war, in den Dom versetzt wären.
Wenn ich nun
gesagt habe, daß diese Chorstühle noch vorhanden sind, so meine ich
nicht, daß sie noch als vollständige Chorstühle existiren, wie sie
in Lenoir Architecture monaslique, Paris, 1856,
und in Gailhabaud *)

Gravierte Chorstuhl-Abbildung im Ratzeburg- Kapitel der
Publikation von Jules Gailhabaud von 1858, nicht bei Lisch
reproduziert!
und zuletzt von CH. RIGGENBACH: († 1863) "Die Chorstühle des
Mittelalters" in den Mittheilungen der k. k. Central=Commission zur
Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, Wien, 1863, August, S.
218, ziemlich gut abgebildet sind: sie sind nur noch in Bruchstücken
vorhanden. Man hat diesen seltenen Kunstwerken sehr übel
mitgespielt, wahrscheinlich im J. 1648, indem man die Stühle
auseinanderriß und nur die verzierten Seitenstücke erhielt. Diese
Seitenstücke wurden aber in der Mitte auseinander gesägt und die
Stücke zu Füßen für Sitzbänke untergeordneten Ranges benutzt. Am
Westende des Mittelschiffes stehen 3 offene Bänke für arme Leute mit
diesen alten Füßen; die übrigen finden sich unter mehreren Bänken im
nördlichen Seitenschiffe befestigt. Im Ganzen waren im October 1859
noch 10 untere Hälften und 12 obere Hälften von den alten
Seitenstücken als Bankfüße im Dome vorhanden. Es ist allerdings ein
dringendes Bedürfniß für die Culturgeschichte, daß diese
merkwürdigen Reste des Alterthums wieder zusammengebracht und
anständiger und sicherer aufbewahrt werden, wenn sich auch nicht
leugnen läßt, daß man die Erhaltung dieser Reliquien sicher nur der
untergeordneten Verwendung beim Abbruch der Stühle verdankt.
212 213
2. Der
altgothische Chorstuhl.
An
der Südwand des hohen Chores steht ein alter Stuhl mit drei Sitzen,
in welchem ebenfalls noch alte Ueberreste verborgen sind. Dieser
Chorstuhl ist, ebenfalls um das Jahr 1648, aus verschiedenen
Bruchstücken zusammengebracht. Die Sitze und die Rückwand sind jung.
Der ungleich dreifach getheilte Baldachin stammt aus dem Ende des
15. Jahrhunderts. Die Seitenstücke sind aber alt. Diese bestehen aus
zwei verschiedenen Theilen. Die beiden viereckigen, oblongen
Seitenplanken sind alt und gehören sicher zusammen; die darauf
genagelten Giebel sind freilich auch alt, gehören aber nicht zu den
viereckigen Seitenplanken, sondern sind von andern Seitenstücken
abgesägt und auf diese Seitenplanken genagelt. Von diesen
Ueberresten sind die beiden zusammengehörenden Seitenplanken allein
von Wichtigkeit. Unten ist von denselben auch schon ein Ende,
vielleicht so lang als die Sitzhöhe, abgesägt, der obere verzierte
Theil ist aber noch vollständig erhalten. Diese viereckigen
Seitenstücke sind jetzt noch gegen 6 Fuß hoch und gegen 2 Fuß breit
und an den Außenseiten mit Schnitzwerk bedeckt. Die eine Seitenwand
stellt die WURZEL JESSE in Weinlaub, die andere einen Bischof unter
den Wurzeln eines EICHBAUMS dar, das Ganze also die Entwickelung des
CHRISTENTHUMS und der KIRCHE in sehr sinniger Anordnung.
Die
eine Seitenwand stellt die WURZEL JESSE dar (nach Jes. 11, 1, Matth.
1, 6 u. s. w.) und ist bereits in dem französischen Werke:
"Le moyen age monumental et ..archéologique"
abgebildet. Auf einem Bette liegt ISAI, auf dessen Brust ein
WEINSTOCK wurzelt, dessn zwei Hauptreben sich zu drei ELLIPTISCHEN
Medaillons verschlingen, in denen übereinander die drei
Hauptpersonen des Stammbaums stehen: unten DAVID mit Krone,
Reichsapfel und Lilienscepter, in der Mitte MARIA mit den beiden
Händen über die Brust gekreuzt, oben CHRISTUS, die rechte Hand zum
Segnen erhoben, mit der linken Hand das geöffnete Buch haltend; in
den Ranken des Weinstocks stehen 6 PROPHETEN mit Spruchbändern (ohne
Schrift) in den Händen.
Die andere Seitenwand hat in der
obern Hälfte einen EICHBAUM, dessen Wurzeln auf der untern Hälfte an
beiden Seiten lang herunter hangen. Zwischen den Wurzeln steht eine
GOTHISCHE NISCHE in altem Spitzbogen, jedoch noch mit rundbogigen
Oeffnungen in den Seitenpfeilern; in der Nische steht ein Bischof,
mit niedriger Bischofsmütze, die rechte
213 214
Hand zum Segnen
erhoben, in der linken Hand einen einfachen Bischofsstab haltend.
Diese beiden zusammengehörenden Seitenstücke sind nun ohne
Zweifel auch sehr alt; wenn sie auch nicht mehr dem romanischen
Style des 12. Jahrhunderts angehören, so muß man sie doch noch in
das 13. JAHRHUNDERT verweisen. Die Arbeit ist zwar vortrefflich;
aber sie ist NATURALISTISCH und ängstlich und liegt offenbar in den
allerersten Zeiten der gothischen Kunst, als man das natürliche
Blattwerk einführte, ehe man es künstlerisch=architektonisch zu
behandeln verstand. Die ganze Arbeit ist flach gehalten und mehr
gezeichnet und ausgeschnitzt, als modellirt; die Oberfläche liegt
fast ganz in einer ebenen Fläche. Die FIGUREN sind groß und SCHLANK,
wenn auch flach. Das BLATTWERK ist gut gezeichnet, aber oft klein
und naturalistisch behandelt, so daß noch überall die Zeichnung
durchschimmert; die Blätter sind nach ihrer Lage je nach der
Oberfläche mit vertieften und nach der Unterfläche mit erhabenen
Rippen unterschieden und die Rippen der Natur ängstlich nachgeahmt.
Die ZWEIGE, welche nach dem natürlichen Wuchs nicht Platz finden
konnten, sind als ABGEHAUEN dargestellt. Die Kronen sind große, alte
Lilienkronen. Das kurze SCEPTER Davids ist oben mit einer sehr
großen, breiten Lilie geschmückt, wie solche auf den großen
Brakteaten und andern Werken der romanischen Zeit erscheinen. Die
BISCHOFSMÜTZE ist sehr NIEDRIG und schmucklos; der sehr einfache
BISCHOFSTAB hat nur ein EINFACHES Weinblatt in dem Haken und nur
einen kleinen Knopf unter dem Haken. Ueberall zeigt sich, z. B. in
der Umrahmung, noch der RUNDSTAB, nirgends ist eine Hohlkehle
sichtbar. DIE NACHAHMUNG DER NATUR tritt überall hervor, während die
romanische Kunst eine ausgebildete Architektur=Ornamentik hatte,
welche mit großer Gewandtheit und Freiheit behandelt ward, wie schon
die romanischen Chorstühle zeigen. Die einzige architektonische
Stylandeutung, die sich findet, ist der Spitzbogen, unter welcher
der Bischof steht; aber dieser gothische Bogen ist sehr einfach, alt
und strenge und liegt jedenfalls in den ersten Anfängen der Gothik.
Ich trage daher kein Bedenken, diese Seitenstücke IN DIE MITTE
DER ZWEITEN HÄLFTE DES 13. JAHRHUNDERTS, ungefähr zwischen 1260-1280
zu setzen, in die Zeit, in welcher der nördliche Theil des
KREUZGANGES GEBAUET ward. Daher ist dieses Kunstwerk auch noch sehr
alt und sowohl durch Seltenheit, als durch Geist und Zartheit ein
sehr ausgezeichnetes Stück.
214
215
3. Der
junggothische Chorstuhl.
An
der Nordseite des hohen Chors steht ein großer Chorstuhl mit drei
Sitzen, welcher in den Seitenwänden und in der Bedachung noch
unversehrt ist; es fehlen nur die alten drei Sitze. Er hat einen
dreifach getheilten Baldachin und hohe Giebel und Fialen; die ganze
Arbeit stammt aus der jüngern Zeit der Gothik und läßt sich ziemlich
genau nach der Zeit bestimmen. Die Seitenwände sind nur mit der
gewöhnlichen gothischen Architektur geschmückt. Unter den Giebeln
stehen jedoch zwei große geschnitzte Wappen, rechts das Wappen des
Bisthums Ratzeburg, (eine halbe Burg und ein Bischofsstab), links
das WAPPEN DES BISCHOFS JOHANN PROEL, welcher 1440-1454 den
Bischofsstuhl einnahm und in der Kapelle hinter diesem Stuhle
begraben ward. Dieser Stuhl, welcher ziemlich gut gearbeitet ist,
erhält durch diese Zeitbestimmung eine gewisse Wichtigkeit.
Noch wichtiger aber wird dieser Stuhl durch die gottesdienstliche
Bestimmung, welche er hatte. Es ist dies einer jener seltenen
Stühle, welche zum Meßdienst gehörten, also ein kirchliches Geräth
bildeten, ein sogenannter "LEVITEN-STUHL". Während an der Nordseite
(Evangelienseite) des alten Altars das Tabernakel stand, stand an
der Südseite (Epistelseite) ein hoher, oft architektonisch reich
geschmückter Chorstuhl mit drei Sitzen, in welchen sich der
Meßpriester, der Diakon und der Subdiakon anbetend zurückzogen,
während das Gloria in excelsis und das
Credo gesungen ward. Ich habe diese Stühle
in den Jahrb. XXII. S. 218 flgd., berührt und sie in Doberan,
Amelungsborn, Maulbronn, Wimpfen und sonst nachgewiesen. Dieser
Stuhl in Ratzeburg gehört nach seiner ganzen Einrichtung ohne
Zweifel zu den Stühlen für den Meßdienst und stand früher gewiß an
der Südseite, von wo er aber vor einem ungeheuren modernen
Epitaphium weichen mußte. An seiner Stelle flickte man wohl im 17.
Jahrhundert den oben erwähnten altgothischen Stuhl zusammen, welcher
viel schmaler und niedriger ist und dem Epitaphium nicht im Wege
steht. Leider sind die beiden Chorstühle im J. 1648 schwarz
angestrichen, wie überhaupt die todte schwarze Stuhlfarbe in dem
weiß getünchten Dome vorherrschend ist.
G. C. F. Lisch.
Hier die
Vorlage der Transkription, in Frakturschrift, auch zum Download:
*)
Lisch bezieht sich hier auf die
Publikation von Jules Gailhabaud: L'
architecture du V.me au XVII.me siècle et les arts qui en dépendent
: la sculpture, la peinture murale, la peinture sur verre la
mosaique, la ferronnerie, etc. ; publiés d'après les travaux inédits
des principaux architectes français et étrangers.
Paris: Gide, 1858. - Eine downloadbare Auskopplung des
Ratzeburg-Kapitels (mit gravierten Illustrationen) innerhalb dieser
Publikation gibt es hier:
Georg Christian Friedrich Lisch (1801-1883): Die alten Chorstühle
des Domes zu Ratzeburg. In: Jahrbücher des Vereins für
Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Band 29 (1864), S.
211-215. - Er war Prähistoriker, mecklenburgischer
Altertumsforscher, Großherzoglich mecklenburg-schwerinscher
Archivar, Bibliothekar und Konservator sowie Heraldiker, Redakteur
und Publizist. Unter Lischs tätiger Mitwirkung wurde 1835 der
"Verein für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde"
gegründet, für den Lisch fast fünf Jahrzehnte intensiv tätig war. Er
war Erster Sekretär des Vereins, baute die Sammlungen des Vereins
auf und gab die Jahrbücher und Jahresberichte des Vereins heraus, in
denen er sehr viele eigene Aufsätze publizierte, so wie diesen.
|