Friedrich Georg Ludwig Crull:
Der Ratzeburger Dom (1875)



Der Ratzeburger Dom.

Unter den Lübeckern, welche Sinn für Naturschönheit haben, giebt es gewiß wenige, die nicht einmal einen sommerlichen Tag in dem prächtigen Ratzeburg zugebracht hätten, und diese wißen, daß das Landschaftsbild, an welchem sich das Auge erfreut, vor manchen ähnlichen ganz besonders ausgezeichnet ist durch die majestätische Baugruppe des altergrauen Doms, welche in ihrer monumentalen Würde allenthalben den Mittelpunkt der Prospecte abgiebt und der Landschaft die feierlich-milde Stimmung verleiht. Dieselben wißen auch, daß nicht minder in der Nähe jener Bau auf seinem von Linden umschatteten Hügel einen ebenso bedeutenden wie reizvollen Anblick gewährt, und so werden diese alle nicht ohne Interesse vernommen haben oder vernehmen, daß der Großherzog von Mecklenburg die seit längerer Zeit beabsichtigte Restauration des Doms in derjenigen Weise auszuführen befohlen hat, welche von einer aus Baukünstlern und Archäologen zusammengesetzten Commission vorgeschlagen und durch eine wohl unterrichtete Feder in der Neustrelitzer Zeitung (Rostocker Zeitung No. 150) dankenswerther Weise dem Publikum bekannt gegeben worden ist.

Ein Architect kann den höchsten Ruhm verdienen durch seine klaren und zweckmäßigen Pläne und die Schönheit seiner Aufrisse und doch unbefähigt sein, Restaurationen in irgend genügender Weise auszuführen, denn dazu genügt weder ein, wenn auch noch so großer Schatz technischer Kenntnisse und Reichthum an Erfindungsgabe, noch die möglichst vollständige Beherrschung dieses oder jenes Styls, sondern es ist auch eine Summe allgemeiner Bildung, ein Fonds von poetischem Sinn, Tact und ganz besonders von Pietät und Bescheidenheit erforderlich, um wahrhaft restauriren zu können. Der Baurath Daniel in Neustrelitz, welcher in Ratzeburg diese Aufgabe lösen soll, gilt in seiner Heimath Schwerin für einen ganz besonders tüchtigen und gebildeten Künstler und wird, so weit man aus dem obengedachten Zeitungsartikel schließen kann, diesem ausgezeichneten Rufe auch durch die That hier gerecht werden.

Das in jenem Artikel dargelegte Programm des beabsichtigten Unternehmens begreift wesentlich drei Puncte, nämlich Abbruch der Anbauten des 14. beziehentlich des 15. Jahrhunderts und Wiederherstellung der alten Seitenschiffe, Neubau der Orgel und eines Choraufganges vom Schiffe aus, Wiederherstellung

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des alten Mobiliars und der historischen Denkmäler und Erneuerung der Kirchenstühle. Das ist ein Programm, dem volle Billigung im Allgemeinen zu Theil werden wird. Allerdings könnte leicht die Beseitigung der Capellen im Interesse der malerischen Wirkung des Bauwerks Widerspruch erfahren, aber wenn man in Betracht zieht, daß diese Anbauten in üblem baulichen Zustande sich befinden, daß sie sowohl der Anlage nach, als bezüglich der Einzelheiten ohne nennenswerthe künstlerische Bedeutung sind und theilweise durch eine handwerkerliche Erneuerung einen widerwärtigen Anblick dem bauverständigen Auge bieten, so wird man nicht umhin können, der beabsichtigten Freilegung und Wiederherstellung der alten Seitenschiffe zuzustimmen. An die eine der Capellen lehnt sich freilich die Sage und ist dieselbe Ruhestätte Herzog Erichs des älteren von Bergedorf, aber es scheint das den angegebenen Mißständen gegenüber doch keine zwingende Nöthigung mit sich zu führen sie zu erhalten, vorausgesetzt, daß Maßregeln getroffen werden, um Grabstein und Gruft schicklich zu bewahren.

Daß die Orgel an ihrer jetzigen Stelle den besten Platz habe, wird niemand behaupten, und ebenso wenig wird es beklagt werden, daß dieselbe nicht, gemäß früherer Intention, in das nördliche Transsept verlegt werden soll. Wirklich scheint kein besserer Platz für dieselbe zu ersinnen, als derjenige unter dem Thurme, wo man jetzt den Bau anordnen will. Voraussetzen muß man aber dabei, daß bezüglich Orgel- und Sängerbühne nicht des Guten zu viel geschehen wird. Die Orgel ist bestimmt, den Gesang der Gemeinde zn leiten und zu begleiten, nicht aber zu Concerten und Produktionen reisender Musikanten, und die Erfahrung lehrt, daß übergroße Anlagen nicht allein die Raumverhältnisse der Kirchen auf das Empfindlichste schädigen, sondern daß auch die Gemeinden bei solchen das Singen nachund [sic!] nach ganz aufgeben. Daß ein Aufgang vom Schiffe zum Chore früher bestanden hat, mag sich herausgestellt haben, die Herstellung eines solchen aus irgend welchen Gründen wünschenswerth sein; eine besonders vortheilhafte Wirkung wird man sich aber von dieser Anordnung nicht versprechen dürfen.

Einverstanden wird man sich ferner erklären mit der Conservirung der jetzigen Kanzel, welche freilich erst dem 16. Jahrhunderte angehört, aber ein tüchtiges Werk ist und nach ihrer Säuberung von späterem Anstrich - sie wird ursprünglich höchstens mit Gold und einem Minimum von Farbe staffirt gewesen sein - mehr Interesse erwecken und Wohlgefallen finden wird, als jene kostbaren und langweiligen neuen Structuren, welche den Stempel mühsamer Composition an der Stirne tragen. Aeußerst fraglich erscheint es aber, ob der Altaraufsatz sich gleichfalls erhalten laßen wird. Soll der Dom nämlich, so weit es möglich und nöthig ist, in uranfänglicher Erscheinung

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wieder erstehen, so muß demselben nothwendig auch die angeordnete normale Erleuchtung zurückgegeben werden, welche Chor und Mittelschiff durch die Fenster der Apsis erhielten, und es wird sich diese Nothwendigkeit um so zwingender geltend machen, als das westliche Fenster durch die Orgelbühne mehr oder minder verdeckt werden wird. Man wird in der That auch ohne Verletzung der Pietät zur Beseitigung des zopfigen Ungethüms sich entschließen können und dafür möglicherweise die vortrefflichen Standbilder in einem neuen Aufsatze wieder zu Ehren bringen, welche, wie es scheint, den früheren Hochaltar zierten, gegenwärtig aber mit anderen guten Bildwerken in der südlichen Capelle in schändlicher Vernachläßigung weggestaut und bübischer Ruchlosigkeit preisgegeben sind.

Freudig begrüßt werden wird die projectirte Restauration der alten Chorstühle, welche über Deutschlands Grenzen hinaus den Archäologen bekannt sind, so wie der Vorsatz, die historischen Denkmähler älterer und jüngerer Zeit, die Grabsteine, Epitaphien u. s. w. zu conserviren, sofern das Heben, Verlegen und Abnehmen unter genauer Aufsicht und von Steinhauern ausgeführt wird, nicht von Mauerleuten, welche nicht gewohnt sind mit großen Steinmassen zu hantiren und schon manchen werthvollen Stein zerbrochen haben.

Nehmen wir dann schließlich an, daß man bei Erneuerung des Gestühls, falls die vorhandenen Mittel nicht reichen dasselbe in Eichenholz auszuführen, Abstand nehmen wird von dem ebenso unwürdigen wie erfolglosen Versuche mittelst Oelfarbe das Tannenholz als Eichenholz erscheinen zu laßen, daß man bei Erneuerung der Thüren nicht an theure und für unser Klima unzweckmäßige gestemmte Arbeit denkt und zu den Beschlägen derselben Schmiede-, nicht Klempnerarbeit, zu den Fenstern Kathedralglas nimmt und Solidität der Arbeiten vergänglicher Eleganz vorzieht, so könnten wir uns damit der freudigen Hoffnung hingeben, daß man in Ratzeburg die anderwärts so vielfach begangenen Fehler vermeiden und hier eine wahrhafte, gediegene, mustergültige Restauration sich vollziehen werde, die zur Nachfolge in Lübeck anregen möchte, wenn nicht ein Passus in dem obberegten Artikel geeignet wäre die allergrößten Besorgnisse wachzurufen, insofern derselbe besagt, daß das Innere, die Wand= und Gewölbeflächen, mit einfacher dem Style und der schlichten Bauweise des Doms entsprechender Bemalung versehen werden solle. Es scheint nämlich daraus hervorzugehen, daß man von vorne herein ein gewisses System die Architektur polychrom zu behandeln ins Auge gefaßt habe. Sollte das keine Täuschung sein, so wäre jene Absicht im Interesse der Sache sowohl, wie des leitenden Künstlers auf das Höchste zu beklagen, denn die Arbeit, welche man auszuführen vorhat, würde dann keine Restauration mehr sein, sondern aus ein simples Renoviren hinauslaufen und die Malerei, möchte sie auch

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den besten Vorbildern entlehnt sein, nicht um ein Tüttelchen mehr relativen Werth beanspruchen können, als die Tableaux vom Jahre 1648, mit denen man das Triforium zu schmücken beabsichtigt hat. Die Restauration eines Bauwerks soll das ursprüngliche Werk eines Meisters, das durch Zeit und menschlichen Unverstand beeinträchtigte oder beschädigte Kunstgebilde wieder in möglicher Integrität auferstehen laßen, wieder zu Ehren und Geltung bringen. Das kann aber nur geschehen, was decorative Ausstattung durch Malerei anlangt, wenn genau dieselbe zur Erscheinung gebracht wird, welche nicht allein Zeit und Land, sondern auch dem Bauwerke eigenthümlich angehört, und diese Forderung muß bei Ziegelbauten um so strenger erfüllt werden, als bei solchen wegen des fast gänzlichen Mangels an plastischem Ornament Farbe und Malerei von vorzüglicher Bedeutung sind. Dazu würde es die größte Inconsequenz sein, wollte man einerseits die alten Bauformen wieder herstellen, und andererseits dieselben mit Farben und Decorationen zieren, welche den Vorfahren vielleicht ganz unbekannt, jedenfalls von ihnen nicht beabsichtigt waren. Kurz, es läßt sich mit Fug über die decorative Behandlung der innern Architectur in diesem Augenblicke nicht das Mindeste feststellen, und wenn auch mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit zu vermuthen ist, daß, außerdem daß die senkrechten Flächen im Rohbau stehen geblieben, alle Wölbungen aber geputzt sind, nach gewissen Spuren Grün zu Bändern urn Stabwerk, dann aber vielleicht auch noch Gelb und Schwarz in maßvollster Weise Verwendung gefunden haben, so wird sich das Wie und das Wo erst dann sicher herausstellen, wenn von vorsichtigen Arbeitern unter genauer Aufsicht die Tünche mit (hölzernen) Klöpfeln entfernt worden ist. Man wird dann auch erfahren, ob etwa die jetzigen Malereien oberhalb der Arkaden ältere Bilder bedecken, was freilich nicht wahrscheinlich, und ob die anscheinend altgeputzte Apsis mit figuralen Darstellungen geschmückt ist.

Möchte die vorstehend kundgegebene Zustimmung Anklang finden, die Bemerkungen zutreffend erscheinen, die Befürchtung eitel sein und die alte Wahrheit neue Bestätigung finden, daß es einem guten Worte nicht an einer guten Statt fehle, in Lübeck aber der gegenwärtige Hinweis Theilnahme an dem nachbarlichen Unternehmen erwecken.


[Symbol anstelle eines Autornamens]

 



Hier die Vorlage der Transkription, in Frakturschrift, auch zum Download:







Dr. med. et. h. c. Friedrich Georg Ludwig Crull (1822-1911) war ein deutscher Arzt, Historiker und Archivar. Nach der Gymnasialzeit studierte er Medizin, zunächst an den Universitäten Jena, Göttingen und Berlin, promovierte 1848 und ließ sich als Arzt in seiner Heimatstadt Wismar nieder, praktizierte dort bis 1883. Allerdings wurden seine (regional-)geschichtlichen Interessen, die er seit seiner Jugend besaß, immer übermächtiger. Schon in den 1850er und frühen 1860er Jahren verfasste er zahlreiche - oft kritische - Baubeschreibungen mecklenburgischer Kirchen an der Ostseeküste, die darauf abzielten, das Heimat- und Verantwortungsgefühl für diese Bauten im Lande zu wecken. Schließlich gab er den Arztberuf auf, um sich ganz diesen Studien widmen zu können. In einem Nachruf heißt es dazu: "Am 4. Juni 1911, als das 76. Vereinsjahr sich seinem Ende zuneigte, verstarb zu Wismar unter verehrter Ehrensenior Herr Dr. med. et h. c. phil. FRIEDRICH CRULL im hohen Alter von 88 Jahren. Nicht ein Fachgelehrter in dem Sinne, daß er sein Studium von vorneherein der Geschichte zugewandt hätte, aber nach Veranlagung, unermüdlichem Fleiß und selbsterworbener Sachkunde ein berufener und erfolgreicher Geschichtsforscher, hat er für die Aufhellung der Vergangenheit seiner Vaterstadt Wismar und seines Heimatlandes Mecklenburg [...] außerordentlich nachhaltig gewirkt." (Verein für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde (Hrsg.): Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Band 76 (Schwerin: Bärensprungsche Hofbuchdruckerei, 1911), Anhang, S. 1.