JAKOB VON FALKE

[Erinnerung an den Ratzeburger Dom] 1896/1897

In: Vaterländische Blätter [Altes und Neues aus Lübeck]
Unterhaltungsblatt der Lübekischen Anzeigen, Jahrgang 1896, No. 14
Lübeck, den 20. December 1896.

Jakob von Falcke in Ratzeburg und Lübeck.

[Der Autor des Artikels schreibt stets "Falcke" anstelle des korrekten "Falke".]

In den "Lebenserinnerungen von Jakob von Falcke", der, im Februar 1825 in kleinen Verhältnissen in Ratzeburg geboren, sich durch eigene Kraft zu einer gewichtigen Stellung im kunstgewerblichen Leben erst Nürnbergs und in der Folge der österreichischen Reichshauptstadt - dort als Mitbegründer des Germanischen, hier als Direktor des österreichischen Gewerbemuseums - emporrang[,] so daß gefeierte und gekrönte Persönlichkeiten mit ihm gerne in zwanglosen Verkehr sich unterhielten, finden sich sehr interessante[,] auf Ratzeburg und Lübeck bezügliche Aufzeichnungen[,] denen wir hier theilweise Raum geben wollen. Falcke erzählt, wie keine Schule, keine bestehende Literatur[,] sondern nur heiliger Eifer und frohe Lust zur Sache selbst den Kunst Suchenden und nach Kunstsinne Begehrenden geleitet hat. Von seiner Veranlagung nimmt er an, daß sie nach der künstlerischen Seite hin nicht stark genug war, als daß er, selbst unter der Voraussetzung einer entsprechenden Anleitung, es zum schaffenden Künstler von Bedeutung hätte bringen können. Was ihm gegeben, war ein gutes Gedächtniß, das ihn in die Lage versetzte, festzuhalten, was er gesehen, es mit Anderem zu verbinden, zu vergleichen, aus der Vergleichung Gedanken zu erwecken und Schlüsse zu ziehen. Dazu kam eine reiche Empfänglichkeit des Gemüths, die alles seelisch Anregende im Bereich von Kunst und Natur in sich aufzunehmen und mit den durch das Gedächtnis festgehaltenen Eindrücken derart zu verschmelzen verstand, daß sich daraus ein gesichertes Kunstempfinden und -Wissen ergab.

"Mit solcher Anlage," so fährt Jakob von Falcke, den wir in dem Folgenden selbst redend einführen, fort, "ist es mir nach und nach gelungen, gewissermaßen eine Sammlung von Bildern, von künstlerischen Erinnerungen im Geiste anzulegen, und diese Sammlung, immer wachsend, immer sich vermehrend, wird auch Interesse an der Kunst geschaffen und das Interesse in Liebe und Verständniß verwandelt haben. Ich kann so ziemlich das Wachsen und Werden, sozusagen meines geistigen Museums verfolgen. Die

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Grundlage ist sehr alt und gehört schon meiner frühesten Jugend an, ohne Zweifel zunächst meiner lieben alten Domkirche, in welcher ich schon seit meinem zwölften oder dreizehnten Jahre, da ich Chorschüler wurde, ganz zu Hause war. Ich kannte das alte würdige Gebäude bis unter das Dach, bis in die Spitze des Thurmes hinauf. Ich kannte seinen Bau und seine noch zahlreich erhaltenen Alterthümer, wenn auch selbstverständlich noch nicht als Kunstverständiger. Was wußte ich damals viel von Gothisch und Romanisch - letzterer Ausdruck war ja noch nicht einmal erfunden - aber ich sah die schweren Pfeiler, die Rundbogen, die bemalten Wände darüber, die ornamentale Bemalung der Ecken und Kanten, das Kreuzgewölbe, das hohe Mittelschiff und die niederen Seitenschiffe, die Kapellenausbauten mit spitzbogigen Fenstern, den gewölbten Kreuzgang mit seinen bizarren, mit Thierbildern geschmückten Kapitälen, hohen, im Halbkreise gebauten Chor mit seinem Barockaltar - ich sah alles, und es prägte sich dem jugendlichen Geiste unauslöschbar ein.

Nur Eines habe ich nicht mehr gesehen, die zwölf silbernen Apostel, welche die silberne Statuette Christi umgaben und so in den Nischen einer Altartafel angebracht waren. Ich sah nur noch diese Tafel mit ihren leeren Nischen an der Wand zur Seite des Hochaltars hängen und konnte die Widmung lesen und den Fluch, der für den Diebstahl ausgesprochen war. Es war in einer Winternacht, als sie verschwanden. Ich mochte damals sechs bis sieben Jahre sein und erinnere mich ganz deutlich, wie ich des Morgens in aller Frühe mit der Nachricht geweckt wurde: "Die silbernen Apostel sind gestohlen." Die Nachricht hatte sich schnell verbreitet, denn die Figuren waren der Stolz von Ratzeburg, die Stiftung eines Herrn von Bülow, irre ich nicht[,] aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts. Sie waren fort, nur den Christus hatte man im Schnee wieder aufgefunden, es scheint, er war den Dieben zu schwer geworden, da er die doppelte Größe der Apostel hatte. Die Spur der Diebe ging über den See, der zugefroren und mit Schnee bedeckt war. Drüben verlor sie sich im Walde. Alle Nachforschungen waren umsonst; vielleicht geschahen sie auch mit wenig Geschick, denn etwa zehn Jahre später, da ich mit meinem Vater in Lüneburg war, hörte ich dort von einem Zwiste zwischen zwei Familien, welche sich gegenseitig des Diebstahls der Apostel beschuldigten. Polizei oder Gericht erfuhren nichts davon. Der Nachtwächter, welcher in jener Nacht den Dienst gehabt hatte - ich kannte noch den alten Neding - erkränkte [sic!] sich mehrere Jahre darauf im See. Es scheint[,]der Fluch war an ihm in Erfüllung gegangen.


[Als der Artikel in den "Vaterstädtischen Blättern" erschien, war das Buch noch nicht erschienen: die Erstausgabe datiert aus dem Jahr 1897. Von Falke erweitert im Buch die Wiedergabe seiner Erinnerungsfacetten an den Ratzeburger Dom im fünften Kapitel "Wie ich zur Kunst kam".]



Hier die Vorlage der Transkription, in Frakturschrift, auch zum Download:




 

 



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[...] Ich glaube nicht, daß ich ein Künstler von Bedeutung geworden wäre. auch wenn ich so vom Glücke begünstigt gewesen, um noch in früher Jugend Hand und Auge auszubilden. Meine Phantasie, so viel ich davon besitze, ist nicht erfindender, nicht schöpferischer Natur, sie ist aufnehmend kombinierend, reproduzierend, [...]

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Mit solcher Anlage, so vermute ich, ist es mir nach and nach gelungen, gewissermaßen eine Sammlung von Bildern, von künstlerischen Erinnerungen im Geiste anzulegen, und diese Sammlung, immer wachsend, immer sich vermehrend[,] wird auch Interesse an der Kunst geschaffen und das Interesse in Liebe und Verständnis verwandelt haben. Ich kann so ziemlich das Wachsen und Werden, sozusagen meines geistigen Museums verfolgen. Die Grundlage ist sehr alt und gehört schon meiner frühesten Jugend an, ohne Zweifel zunächst meiner lieben alten Domkirche, in welcher ich schon seit meinem zwölften oder dreizehnten Jahre, da ich Chorschüler wurde, ganz zu Hause war. Ich kannte das alte würdige Gebäude bis unter das Dach, bis in die Spitze des Turmes hinauf. Ich kannte seinen Bau und seine noch zahlreich erhaltenen Altertümer, wenn auch selbstverständlich noch nicht als Kunstverständiger.

Was wußte ich damals viel von Gotisch und Romanisch - letzterer Ausdruck war ja noch nicht einmal erfunden - aber ich sah die schweren Pfeiler, die Rundbogen, die bemalten Wände darüber, die ornamentale Bemalung der Ecken und Kanten, das Kreuzgewölbe, das hohe Mittelschiff und die niederen Seitenschiffe, die Kapellenausbauten mit spitzbogigen Fenstern, den gewölbten Kreuzgang mit seinen bizarren, mit Tierbildern geschmückten Kapitälen, den hohen, im Halbkreise

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gebauten Chor mit seinem Barockaltar - ich sah alles, und es prägte sich dem jugendlichen Geiste unauslöschbar ein. Als ich später zur theoretischen und historischen Kunstlehre kam, standen mir die Beispiele lebendig in der Erinnerung.

Als Chorschüler hatte ich die Verpflichtung, jedem Gottesdienste vom Anfange bis zum Ende beizuwohnen, ja wir mußten früher anwesend sein, um z. B. die Gesangsnummern in die Tafeln einzuschalten, und wir entfernten uns auch erst, wenn niemand von der Gemeinde mehr anwesend war. Dabei hatten wir denn auch oder nahmen uns das Recht, überall in der alten Kirche umherzustöbern und gewissermaßen auf Entdeckungen auszugehen. Bei solcher Gelegenheit sah ich auch in einem Seitenlokale die verworfenen, mit Schnitzereien verzierten Teile der alten Chorsitze romanischen Stils, die heute fast als die einzigen in ihrer Art und in ihrem Alter zu einiger kunstgeschichtlichen Berühmtheit gelangt sind. Ich sah sie gar oft, wußte aber sehr wenig ihren Wert zu beurteilen. Ich sah den schönen Kronleuchter von Messing aus dem 16. Jahrhundert, der über unserem Sängerstandplatze hing, das eiserne Gitter-, welches den erhöhten Chor umgab, den gewaltigen geschnitzten Christus über der kleinen Kanzel auf dem Lettner, ich betrachtete oft und oft die große Tafel mit den Bildern aus dem Leben des Ratzeburger Märtyrers, des heiligen Ansverus, welcher im Jahre 1065 von den heidnischen Wenden erschlagen worden. Hinter dem Altare fand ich noch in einem Schranke wohlerhaltene Meßgewänder von geschnittenem Sammtstoffe, die etwa aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts stammten, also wohl die letzten, die noch im Dome zum katholischen Gottesdienste, das will sagen bei der letzten Messe, gebraucht worden sind, nebst einigen anderen, jener Zeit angehörigen Gegenständen kirchlichen Gebrauchs. Ich stieg auch wohl in die Krypte hinab, betrachtete

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Särge und Grabsteine, von welchen letzteren die meisten zwar, weil auf dem Boden liegend, von den Füßen der Besucher abgetreten waren. Nur im Kreuzgange, unmittelbar neben der Thür zur Quarta, befand sich, aufrechtstehend und wohlerhalten, ein Stein, der einen Mönch und eine Nonne im Relief darstellte. Sie sollten an dieser Stelle eingemauert sein, so ging die Sage.

Nur Eines habe ich nicht mehr gesehen, die zwölf silbernen Apostel, welche die silberne Statuette Christi umgaben und so in den Nischen einer Altartafel angebracht waren. Ich sah nur noch diese Tafel mit ihren leeren Nischen an der Wand zur Seite des Hochaltars hängen und konnte die Widmung lesen und den Fluch, der für den Diebstahl ausgesprochen war. Es war in einer Winternacht, als sie verschwanden. Ich mochte damals sechs bis sieben Jahre alt sein und erinnere mich ganz deutlich, wie ich des Morgens in aller Frühe mit der Nachricht geweckt wurde: "Die silbernen Apostel sind gestohlen." Die Nachricht hatte sich schnell verbreitet, denn die Figuren waren der Stolz von Ratzeburg, die Stiftung eines Herrn von Bülow, irre ich nicht[,] aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts. Sie waren fort, nur den Christus hatte man im Schnee wieder aufgefunden, es scheint, er war den Dieben zu schwer geworden, da er die doppelte Größe der Apostel hatte. Die Spur der Diebe ging über den See, der zugefroren und mit Schnee bedeckt war. Drüben verlor sie sich im Walde. Alle Nachforschungen waren umsonst; vielleicht geschahen sie auch mit wenig Geschick, denn etwa zehn Jahre später, da ich mit meinem Vater in Lüneburg war, hörte ich dort von einem Zwiste zwischen zwei Familien, welche sich gegenseitig des Diebstahls der Apostel beschuldigten. Polizei oder Gericht erfuhren nichts davon. Der Nachtwächter, welcher in jener Nacht den Dienst gehabt

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hatte - ich kannte noch den alten Neding - ertränkte sich mehrere Jahre darauf im See. Es scheint, der Fluch war an ihm in Erfüllung gegangen

Ein anderes Kunstwerk, kein großes zwar - hat erst die Restaurationswut unserer Tage verschwinden gemacht. Die Wände des Hauptschiffes waren in der ganzen Flucht über den Bögen mit lebensgroßen Fresken, grau in grau, aus der biblischen Geschichte bedeckt, Arbeiten der Barockzeit und, wie gesagt, künstlerisch nicht von besonderer Leistung. Immerhin waren sie ein Schmuck der breiten Wände und wie eine christliche Bilderbibel fiir die Gemeinde. Bereits in protestantischer Zeit entstanden, hätte man sie bestehen lassen können, moderner protestantischer Eifer, gepaart mit der nüchternen Restaurationswut, welche vor einigen Jahrzehnten einriß, hat sie mit weißer Tünche überzogen. Jetzt genießt die Gemeinde den horror vacui, den Anblick leerer Wände.

Auch sonst scheint die Restauration gewütet zu haben. Vor nicht langer Zeit sah ich einige Photographien aus dem Innern des Domes und bemerkte mit Schrecken, wie Vieles darin geändert worden, selbst in der originalen, aus alter oder ursprünglicher Zeit stammenden Anlage. Ich war vierzig Jahre lang nicht in der Kirche gewesen und erkannte doch, soweit es bei den Photographien möglich war, alle Veränderungen, so fest steht der alte liebe Dom in meiner Erinnerung, unvergeßlich wie ein Freund der Jugendzeit. In allerjüngsten Tagen ist sogar der Blitz in ihn hineingefahren, und der Brand hat Turm und Dach zerstört. Selbstverständlich müssen sie wieder erbaut werden, aber es soll nicht geschehen - so höre ich wenigstens - wie es war, alt, treu, schlicht und ehrwürdig, sondern mit moderner Architektenweisheit.

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Ohne Zweifel ist es der Dom gewesen, der die erste Ahnung von Kunst und Altertum, wenn auch unbewußt, in die Seele eingepflanzt hat: die Stadt Ratzeburg bietet oder bot sonst gar nichts, keine Sammlungen, keinen Privatbesitz von Kunstsachen irgend einer Art, kein Rathaus, das man ansehen mag, keine Kirche weiter als das allernüchternste, phantasieloseste Gebäude der "Stadtkirche", jeden Kunstgedankens, jeden Schmuckes bar, im Äußern wie im Innern.

Nächst dem Dome in Ratzeburg war es gewiß die Stadt Lübeck, welche meine Bildergalerie im Kopfe bereicherte. Ich kannte sie so gut, da ich ja von ganz früher Zeit bis etwa zu meinem dreißigsten Jahre fort und fort wiederkehrte und ganze Wochen Jahr für Jahr dort verweilte. Eben deshalb ist es aber schwer, die frühen Eindrücke, da ich noch als Knabe oder Jüngling die Straßen durchwanderte, von den späteren zu trennen, als ich mich bereits künstlerischen Studien näherte und schon für meine Arbeiten iiber Kostüme zeichnete und sammelte.



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